Wirtschaftlichkeits- und Richtgrößenprüfung

von Lieb Rechtsanwälte

Das Jahr 2008 hat für die Wirtschaftlichkeits- und Richtgrößenprüfung Neuerungen gebracht.

I. Richtgrößenprüfung

1. Definition


Die Richtgrößenprüfung beinhaltet einen mathematisch-statistischen Ansatz. Diesem folgt eine individuelle Betrachtung und Bewertung des konkreten Verordnungsverhaltens unter Einbeziehung der Praxisstrukturen. Die Richtgrößen werden innerhalb einer KV in der Weise ermittelt, dass das Richtgrößenvolumen, mithin der mit den Kassen vereinbarte Betrag für alle Verordnungskosten im laufenden Jahr, auf die Fachgruppen nach Quoten aufgeteilt wird. Die Höhe der jeweiligen Quote richtet sich an den von der Fachgruppe in einem Vorjahr veranlassten Verordnungskosten aus. Dieser sog. Fachgruppenbetrag wird durch die von der jeweiligen Fachgruppe im Bezugsjahr behandelten Patienten geteilt. Das Ergebnis ist die rein statistische Richtgröße der Fachgruppe.

2. Prüfschwelle

Die Richtgrößensumme der einzelnen Praxis ergibt sich aus der Multiplikation der Richtgröße mit der tatsächlich im laufenden Jahr behandelten Fallzahl. Dieser Wert wird den tatsächlich veranlassten Verordnungskosten gegenüber gestellt. Über-schreitungen von bis zu 15 % (Prüfschwelle) sind unter dem Aspekt der Therapiefreiheit des Arztes unschädlich. Überschreitet der Arzt seine Richtgrößen-summe um mehr als 15 %, ohne den Wert von 25 % zu überschreiten, erfolgt eine schriftliche Beratung nach § 106 Abs. 5 Satz 2 SGB V.

Bei einer Überschreitung von mehr als 25 % ist der Arzt in der Regel verpflichtet, den aus der Überschreitung resultierenden Mehraufwand zu erstatten, soweit dieser nicht durch Praxisbesonderheiten begründet ist. Ausnahmsweise kann auch hier eine schriftliche Beratung erfolgen. Wir verweisen hierzu auf unseren Beitrag "Schriftliche Beratung wegen Unwirtschaftlichkeit nach Richtgrößenprüfung" vom 29.05.2008.

3. Praxisbesonderheiten

Bis zur Überschreitung von 25 % beruht das Prüfverfahren allein auf mathematisch-statistischen Ansätzen ohne Bezug zu den tatsächlichen Praxisstrukturen. Zugrunde liegt die Annahme, dass eine normale Praxis mit den Richtgrößen wirtschaftlich verordnen kann. Erst bei einer Überschreitung von mehr als 25 % sind Praxisbesonder-heiten zu ermitteln. Unter diesen versteht man von der Arztgruppentypik abweichende Umstände, die zu Arzneimittelmehrkosten führen.

Um erfolgreich Praxisbesonderheiten darlegen zu können, ist die Analyse der eigenen Praxis unbedingt erforderlich. Hierbei kann ein Blick auf die aktuellen Diagnosestatistiken der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein unter (www.kvno.de/mitglieder/arznmitl/morbistat.html) helfen.

Ärzte verweisen immer wieder auf den erhöhten Rentneranteil und die Vermeidung von Krankenhauseinweisungen als Praxisbesonderheiten. Beide Einwendungen sind in der Regel untauglich. Evtl. entstehende Mehrkosten durch einen erhöhten Rentneranteil sind in den Richtgrößen bereits berücksichtigt. Was die Vermeidung von Krankenhauseinweisungen betrifft, so ist der Arzt kaum in der Lage darzulegen, wie viele Einweisungen eine normale Praxis vornimmt oder vermeidet.

Einige Praxisbesonderheiten werden von den Prüfstellen ohne Darlegung des Arztes anhand der Wirkstoffe oder Pharmazentralnummern berücksichtigt. Diese sind in den regionalen Prüf- und Richtgrößenvereinbarungen festgelegt. Der Arzt sollte die ihn betreffenden Prüf- und Richtgrößenvereinbarungen kennen.

Den Arzt trifft die Darlegungs- und Beweislast für seine speziellen Praxisbesonderheiten. Spätestens im Verfahren vor dem Beschwerdeausschuss hat er anhand von Daten, Patientenlisten, Aufstellungen der teuersten Fälle oder Einzelfallbeschreibungen vorzutragen, dass die Zusammensetzung seiner Patienten partiell von der Durchschnittspraxis abweicht. Mit allgemeinen Hinweisen, etwa auf einen hohen Rentneranteil, lässt sich der Regress nicht abwenden.

II. Quartalsbezogene Prüfung

Nach altem Recht waren Richtgrößenprüfungen grundsätzlich für den Zeitraum eines Jahres vorzunehmen. Nunmehr können die Prüfungen auch auf den Zeitraum nur eines Quartals begrenzt werden (§ 106 Nr.2 SGB V). Die Quartalsprüfung soll dem Arzt ermöglichen, sein Verordnungsverhalten entsprechend früher anzupassen. Auch fallen bei einer quartalsbezogenen Prüfung die finanziellen Belastungen für den betroffenen Arzt geringer aus als bei einer Prüfung für den Zeitraum eines Jahres.

Trotz dieser vermeintlichen Vorteile sollte der Arzt eine Quartalsprüfung ablehnen. Die Kalkulation der Richtgröße basiert auf den Arzneimittelbudgets, die für einen Jahreszeitraum vereinbart werden. Bei einer quartalsweisen Überprüfung hat der Arzt keine Möglichkeit, die Überschreitung der Richtgrößen in einem Quartal durch andere verordnungsarme Quartale auszugleichen. Die Verordnungsintensität in den vier Quartalen eines Jahres unterscheidet sich typischerweise. So werden regelmäßig in den beiden ersten Quartalen mehr Verordnungen anfallen, während beispielsweise in dem dritten Quartal, bedingt durch den Urlaub vieler Versicherter, unterdurchschnittliche Verordnungsvolumen anfallen.

III. Richtgrößen und Rabattverträge

Arzneimittel, die unter Einhaltung der abgeschlossenen Rabattverträge abgegeben werden, fallen aus den Richtgrößen heraus. Der Arzt tut somit gut daran, sich mit den Rabattverträgen zu befassen.

Allerdings kann niemand verlässlich sagen kann, wie sich die rabattierten Verordnungen im konkreten Fall auf die vereinbarten Richtgrößen des jeweiligen Arztes auswirken. In Regress genommen werden kann der Vertragsarzt nur, wenn die von ihm verordnete Menge an Arzneimitteln in Euro genau beziffert werden kann und der unwirtschaftliche Anteil somit exakt berechenbar ist. Die Rabatte werden jedoch zwischen Herstellern und Kassen ausgehandelt und unterliegen der Geheimhaltung.

Unter diesem Aspekt erweist sich die Richtgrößenprüfung als wenig geeignetes Steuerungselement.

IV. Verjährungsfrist

Mit Beginn des Jahres 2008 muss ein Richtgrößenregress innerhalb von zwei Jahren nach Ende des geprüften Verordnungszeitraumes erfolgen.

Prüfbescheide mit einem Arznei- oder Heilmittelregress aus den Jahren 2005 oder den Jahren zuvor sind somit verjährt. Das gilt aber nur für den Erstbescheid, nicht jedoch für Widerspruchsbescheide des Beschwerdeausschusses.

Nicht geklärt ist, ob die kurze zweijährige Verjährungsfrist auch für Honorarkürzungen gilt. Hier hat sich der Gesetzgeber nicht eindeutig geäußert. Der betroffene Arzt sollte auch hier gegen etwaige Honorarkürzungen aus den Jahren 2005 und den Jahren davor Widerspruch einlegen, wenn nach dem 1. Januar 2008 ein entsprechender Erstbescheid erlassen wurde.

Wir verweisen ergänzend auf unseren Fachartikel vom 9.11.2007 Richtgrößenprüfung 2002 und 2005.

V. Prüfungsstellen, Beschwerdeausschuss

Anstelle der ehemaligen Prüfungsausschüsse nehmen nun Prüfungsstellen die Wirtschaftlichkeitsprüfung eigenständig vor. Die Prüfungsstelle hat auch evtl. Praxisbesonderheiten zu prüfen und bei Zweifeln an der Richtigkeit der Datenlage eigene Nachforschungen anzustellen.

Die Beschwerdeausschüsse wurden verkleinert, und zwar von ehemals sieben Mitglieder auf fünf Mitglieder.

VI. Freiwillige Selbstverpflichtung im Rahmen der individuellen Richtgröße

1. Individuelle Richtgröße

Der von einem Regress betroffene Arzt hat bislang  die Möglichkeit besessen, eine „individuelle Richtgrößenvereinbarung“ zu treffen. Macht er hiervon Gebrauch, bleibt ihm trotz Überschreitung der Richtgrößen ein Regress erspart, sofern er künftig eine individuell vereinbarte Richtgröße einhält  So regelt es § 106 V 5d SGB V. Es heißt dort:

"Vom Vertragsarzt zu erstattender Mehraufwand wird abweichend von Abs. 5 S. 3 nicht festgesetzt, soweit der Prüfungsausschuss mit dem Arzt eine individuelle Richtgröße vereinbart, die eine wirtschaftliche Verordnungsweise des Arztes unter Berücksichtigung von Praxisbesonderheiten gewährleistet."

Wie ist diese Vereinbarung zu gestalten?

1.1. Der Vertrag ist schriftlich zu schließen, und zwar zwischen dem Vertragsarzt und dem Prüfungsausschuss der Kassenärztlichen Vereinigung (KV). Der Zustimmung der Krankenkassen bedarf es nicht.

1.2. Der Vertragsarzt verpflichtet sich, ein geringeres Verordnungsvolumen als in dem Prüfjahr einzuhalten.

Hierzu wird die individuelle Richtgröße festgelegt. Sie muss auf das Verordnungsvolumen bezogen korrekt berechnet sein. Hier ist der Arzt gefordert. Er hat darauf zu achten, dass ein auf seine Praxis und sein Verordnungsvolumen bezogenes Profil erstellt wird. Nur wenn Verordnungs- und Praxisprofil stimmen, reicht die Richtgröße aus, das Verordnungsvolumen abzudecken.

Die vereinbarte Richtgröße entbindet selbstverständlich nicht von der Verpflichtung zur wirtschaftlichen Verordnungsweise unter Berücksichtigung der Praxisbesonderheiten.

Ändern sich die Berechnungsgrundlagen für die individuelle Richtgröße, ist diese anzupassen. Das gilt insbesondere dann, wenn sich das Patientengut des Vertragsarztes während der Laufzeit der Vereinbarung wesentlich zur Berechnungsgrundlage geändert hat.

1.3. Die Richtgröße ist wenigstens auf vier Quartale beschränkt. Eine längere Laufzeit bietet sich dann an, wenn der Vertragsarzt über anerkannte Praxisbesonderheiten verfügt und absehbar ist, dass sich die Berechnungsgrundlagen voraussichtlich nicht wesentlich ändern werden.

1.4. Im Rahmen der Vereinbarung verpflichtet sich der Vertragsarzt, den Mehraufwand bei einer Überschreitung der vereinbarten Richtgröße zu erstatten, und zwar bereits ab dem Quartal, das der Vereinbarung folgt. Mit anderen Worten: Die Überschreitung der individuellen Richtgröße führt automatisch zum Regress. Eine nachträgliche Überprüfung im Hinblick auf Praxisbesonderheiten scheidet aus.

1.5. Tipp

Bei der Bestimmung der individuellen Richtgröße ist das besondere Augenmerk darauf zu legen, dass die Berechnungsgrundlage das genaue Verordnungs- und Praxisbild korrekt wiedergibt. Es muss so sichergestellt werden, dass dem Arzt eine wirtschaftliche Verordnungsweise unter Berücksichtigung der anzuerkennenden Praxisbesonderheiten möglich ist.

Hausärzte können sich gegen Regressforderungen versichern. Der Hausärzte-verband hat in Zusammenarbeit mit einem Versicherer eine Police auf den Markt gebracht. Der Versicherungsschutz greift allerdings nur, wenn der Vertragsarzt in seiner Praxis ein bestimmtes PC-basiertes Therapie-Report-System einsetzt. Das System analysiert das Verordnungsverhalten. Kommt es trotz korrekter Nutzung des Systems zu einem Regress, soll Versicherungsschutz bestehen.(weitere Informationen: www.hausaerzteverband.de) Dieser Hinweis erfolgt ohne eigene Bewertung des Versicherungsschutzes.

2. Neu: Zielvereinbarungen

Mit Beginn des Jahres 2008 besteht darüber hinaus die Möglichkeit, individuelle Richtgrößen als sog. Zielvereinbarungen zu treffen. Voraussetzung hierfür ist, dass in der Zielvereinbarung hinreichend konkrete und ausreichende Wirtschaftlichkeitsziele für einzelne Wirkstoffe oder Wirkstoffgruppen festgelegt werden.

Solche Zielvereinbarungen gibt es bereits bei den Arzneimittelvereinbarungen nach § 84 SGB V. Hier erhält der Arzt einen zusätzlichen Bonus, soweit die Zielvereinbarung von ihm eingehalten wird.

Neu ist schließlich die „Vergleichsvereinbarung“ zwischen Prüfstelle bzw. Beschwerdeausschuss und Arzt (§ 106 Nr. 5a SGB V) Im Rahmen einer solchen Vereinbarung wird der festgesetzte Regress um 20 % im Wege des Vergleiches reduziert, vorausgesetzt, der Arzt verzichtet darauf, gegen den Regress vorzugehen. Die „Vergleichsvereinbarung“ kann für den betroffenen Arzt durchaus interessant sein, soweit eine Überschreitung der Richtgrößen um über 25 % vorliegt und diese nicht mit Praxisbesonderheiten begründet werden kann.

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