Vertragsarztrecht: Richtgrößenprüfung – Beratung vor Regress

von Lieb Rechtsanwälte

Nach § 106 Abs. 5e SGB V erfolgt bei einer erstmaligen Überschreitung des Richtgrößenvolumens um mehr als 25 % eine individuelle Beratung. Ein Erstattungsbetrag kann bei künftiger Überschreitung erstmals für den Prüfzeitraum nach der Beratung festgesetzt werden.

Das Instrument „Beratung vor Regress“ ist nur bei der Richtgrößenprüfung anwendbar. Dies hat das Bundessozialgericht mit Urteil vom 15.08.2012 – B 6 KA 45/11 ausdrücklich bestätigt.

 

Zunächst war streitig, ob das Instrument auch für Altfälle vor Inkrafttreten der Vorschrift zum 01.01.2012 gilt. Hier regelte der Gesetzgeber mit Wirkung zum 26.10.2012 unter Aufnahme des Satzes 7: „Dieser Absatz gilt auch für Verfahren, die am 31.12.2011 noch nicht abgeschlossen waren“.

Nach der Gesetzesbegründung scheidet danach die Festsetzung eines Erstattungsbetrages für Prüfzeiträume aus, die vor der tatsächlichen Beratung liegen. Hingegen gilt die Regelung nicht für bereits abgeschlossene Widerspruchsverfahren, selbst wenn eine Klage gegen die Entscheidung des Beschwerdeausschusses noch anhängig ist.

Auch nach dieser Ergänzung verbleiben Fragen zur Rechtslage.

1. Wann liegt eine erstmalige Überschreitung des Richtgrößenvolumens vor?

Das LSG Nordrhein-Westfalen vertritt in seinem Urteil vom 20.11.2013 – L 11 KA 49/13 – die Auffassung, dass strikt auf den Wortlaut der Regelung abzustellen sei. Danach sei entscheidend, ob der Arzt erstmalig die Richtgröße überschreite. Habe der Arzt bereits in der Vergangenheit auffällig verordnet, falle er nicht in den Schutzbereich dieser Regelung.

Demgegenüber vertritt das LSG Baden-Württemberg in seinem Beschluss vom 19.02.2013 – L 5 KA 222/13 ER–B – die Auffassung, dass als erstmalige Überschreitung im Sinne des § 106 Abs. 5e SGB V diejenige anzusehen sei, auf die erstmals eine Beratung erfolge. Es sei unerheblich, ob die Richtgröße in der Vergangenheit überschritten worden sei.

Der Auffassung des LSG Baden-Württemberg ist der Vorzug zu geben. Die individuelle Beratung beschränkt sich nicht auf eine Warnfunktion. Sie soll vielmehr darauf angelegt sein, das ärztliche Verhalten zu steuern und dafür zu sorgen, dass der Arzt künftig wirtschaftlich handelt. Die Verordnungspraxis des Arztes soll möglichst mit einem Pharmakologen unter Berücksichtigung des Patientenguts analysiert werden, um dem Arzt befriedigende Verordnungsalternativen an die Hand zu geben. Begründungen in Regressbescheiden reichen, wie das LSG Nordrhein-Westfalen offenbar meint, nicht aus.

2. 25 %-ige Überschreitung als Ausgangsüberschreitung?

§ 106 Abs. 5e SGB V verweist auf § 106 Abs. 5a Satz 1 SGB V. Danach sind Beratungen bei Überschreitung des Richtgrößenvolumens nach § 84 Abs. 6 und 8 SGB V durchzuführen, wenn das Verordnungsvolumen eines Arztes in einem Kalenderjahr das Richtgrößenvolumen um mehr als 15 v. H. übersteigt und aufgrund der vorliegenden Daten die Prüfungsstelle nicht davon ausgeht, dass die Überschreitung in vollem Umfang durch Praxisbesonderheiten begründet ist.

Folglich ist auch bei der Beratung nach § 106 Abs. 5e SGB V eine Vorabprüfung durchzuführen. Auch bei einer Überschreitung des Richtgrößenvolumens um mehr als 25 % von Amts wegen zu berücksichtigende Praxisbesonderheiten vorab herauszurechnen.

3.  Welches Recht kommt zur Anwendung bei Verfahren, in denen die Beschwerdeausschüsse zwischen dem 01.01.2012 und dem 26.10.2012 über Widersprüche entschieden haben?

Das LSG Nordrhein-Westfalen vertritt in dem bereits angesprochenen Urteil die Auffassung, dass der Grundsatz „Beratung vor Regress“ bis zum 26.10.2012 nur auf solche Verfahren anzuwenden ist, die nach dem 01.01.2012 eingeleitet wurden. Dem steht die gesetzliche Regelung entgegen. Nach der Gesetzesbegründung zu § 106 Abs. 5e Satz 7 SGB V soll der Grundsatz „Beratung vor Regress“ auch auf laufende Verfahren Anwendung finden, mithin seit dem 01.01.2012.

4.  Wie wirkt sich eine bereits erfolgte Beratung auf einen Gesellschafterwechsel innerhalb einer Gemeinschaftspraxis aus?

Die Gemeinschaftspraxis ist als Gesellschaft bürgerlichen Rechts rechtsfähig. Bereits mit Urteil vom 16.07.2003 entschied das BSG – B6 KA 49/02 R –, dass sich Maßnahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung und Regresse wegen unwirtschaftlicher oder unzulässiger Verordnung von Arznei- bzw. Heil- und Hilfsmitteln gegen die Gemeinschaftspraxis und nicht gegen einzelne ihr zugehörenden Ärzte richten. Folglich hat eine bereits erfolgte Beratung auch bei Gesellschafterwechsel Bestand. Ein neu eintretender Gesellschafter kann sich nicht darauf berufen, dass jedenfalls ihm gegenüber bislang keine Beratung erfolgt ist.

Anders verhält es sich, wenn bislang in einem MVZ oder einer Gemeinschaftspraxis angestellte Ärzte neu zugelassen werden. Hier hat eine früher ausgesprochene Beratung keine Nachwirkung. Gleiches wird auch gelten müssen, wenn bereits zugelassene Ärzte sich zu einer neuen Gemeinschaftspraxis zusammenschließen.

Praxishinweis:

Bietet ein Prüfgremium bei einem Eilverfahren an, den bereits verhängten Regress in eine Beratung umzuwandeln, sollte der Arzt zunächst prüfen, ob die Überschreitung der Richtgröße um mehr als 25 % nicht durch eine Praxisbesonderheit gerechtfertigt ist. Falls ja, besteht kein Anlass für eine Beratung. Wird diese gleichwohl akzeptiert, stünden künftige Regresse ohne Klärung der Praxisbesonderheiten an.

Hebt das Sozialgericht bei einem Altverfahren den angefochtenen Widerspruchsbescheid auf und verweist das Verfahren an den Beschwerdeausschuss zurück, kann letzterer gleichwohl keine Beratung mehr aussprechen. Das mit Einreichung der Klage abgeschlossene Widerspruchsverfahren wird nicht neu eröffnet.

(Quelle: ZMGR 11/2014)

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