Vertragsarztrecht: Fortführungsfähigkeit einer Arztpraxis

von Lieb Rechtsanwälte

Für die Beurteilung der Fortführungsfähigkeit einer Vertragsarztpraxis ist, so vom BSG mit Urteil vom 23.03.2016 – B 6 KA 9/15 R – entschieden, der Zeitpunkt der Antragstellung auf Ausschreibung des Vertragsarztsitzes maßgeblich, nicht der Zeitpunkt des Beschlusses des Berufungsausschusses oder der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Tatsachengericht.

 Eine Nachfolgezulassung scheidet nicht schon deshalb aus, weil nach der Bestandskraft der Zulassungsentziehung keine Zulassung mehr auf einen Nachfolger übertragen werden könnte.

 Aus den Entscheidungsgründen:

Tatbestandliche Voraussetzung für eine Nachfolgezulassung ist, dass eine fortführungsfähige Praxis existiert. Eine Praxis kann im Sinne des § 103 Abs. 4 Satz 1 SGB V a. F. nur dann von einem Nachfolger fortgeführt werden, wenn der ausscheidende Vertragsarzt zum Zeitpunkt der Beendigung seiner Zulassung – von der seltenen Situation eines Ruhens der Zulassung zunächst abgesehen – tatsächlich unter einer bestimmten Anschrift im nennenswerten Umfang (noch) vertragsärztlich tätig gewesen ist (vgl. § 95 Abs. 3 Satz 1 SGB V). Das setzt den Besitz bzw. Mitbesitz von Praxisräumen, die Ankündigung von Sprechzeiten, die tatsächliche Entfaltung einer ärztlichen Tätigkeit unter den üblichen Bedingungen sowie das Bestehen der für die Ausübung der ärztlichen Tätigkeit im jeweiligen Fachgebiet erforderlichen Praxisinfrastruktur in apparativ-technischer Hinsicht voraus. Ein Vertragsarzt, der eine vertragsärztliche Tätigkeit tatsächlich nicht wahrnimmt, keine Praxisräume mehr besitzt, keine Patienten mehr behandelt und über keinen Patientenstamm verfügt, betreibt keine Praxis mehr im Sinne des § 103 Abs. 4 Satz 1 SGB V a. F.

Der Grundsatz, dass auf den Zeitpunkt der Stellung des Antrags auf Ausschreibung abzustellen ist, erfährt in besonderen Konstellationen allerdings Einschränkungen, so wenn z. B. ein Antrag in missbräuchlicher Weise bereits lange Zeit vor der Beendigung der Zulassung des abgebenden Arztes gestellt oder wenn das Zulassungsverfahren verzögert wird. Nicht schutzwürdig kann auch die Rücknahme eines Ausschreibungsantrags und unmittelbar darauf wiederholte Antragstellung sein. Zwar ist eine wiederholte Antragstellung nicht ausgeschlossen. Das Recht auf Wiederholung der Ausschreibung geht aber verloren, wenn feststeht, dass der Praxisabgeber die Übergabe im ersten Verfahren aus Gründen, die vom Gesetz ausdrücklich nicht geschützt werden, scheitern lässt.

Ein Praxisinhaber darf das Nachfolgeverfahren nicht dazu nutzen, um außerhalb seines berechtigten Interesses an der Zahlung des Verkehrswertes Einfluss auf das Nachfolgeverfahren zu nehmen. Die Einschätzung der Geeignetheit der Bewerber im Übrigen obliegt nach § 103 Abs. 4 Satz 3 SGB V allein dem Zulassungsausschuss. Wenn der Praxisabgeber mit dem rechtsfehlerfrei ausgesuchten Praxisbewerber einen Vertrag nicht abschließen möchte, so bedeutet dies nicht, dass der von ihm bevorzugte Praxisbewerber auszuwählen ist, sondern es kommt zum Scheitern des Nachfolgeverfahrens. Die Regelungen über die Auswahl eines Bewerbers sollen sicherstellen, dass der nach Maßgabe der Kriterien des § 103 Abs. 4 Satz 5 SGB V am besten geeignete Bewerber die Nachfolgezulassung erhält. Missbräuchlich ist daher eine Einflussnahme des Praxisinhabers auf das Verfahren vor den Zulassungsgremien zur Durchsetzung des „Wunschkandidaten“. Die Auswahl des Nachfolgers obliegt allein den Zulassungsgremien.

Für die Beurteilung der Frage, ob die Voraussetzungen einer „Fortführung der Praxis“ gegeben sind, kommt dem zeitlichen Abstand zwischen der Beendigung der vertragsärztlichen Tätigkeit durch den Vorgänger und dem Zeitpunkt der Antragstellung erhebliche Bedeutung zu. Ohne Frage ist es aus Versorgungsgesichtspunkten wünschenswert, dass die ärztlichen Leistungen möglichst nahtlos am Vertragsarztsitz angeboten werden. Dem Ablauf einiger Monate kann aufgrund der sich verändernden Patientenströme eine erhebliche Bedeutung zukommen. Eine generelle Festlegung, nach welcher Zeitspanne eine fortführungsfähige Praxis nicht mehr existiert, hat der Senat nicht getroffen, sondern dies von der Bewertung der gesamten Umstände des Einzelfalles abhängig gemacht.

Beraterhinweis:

In dem vom BSG entschiedenen Fall hatte ein Vertragsarzt seinen Ausschreibungsantrag zweimal zurückgenommen und unmittelbar darauf erneut gestellt, um Einfluss auf das Nachfolgeverfahren zu nehmen, insbesondere einen über dem Verkehrswert liegenden Kaufpreis zu erzielen. Die Entscheidung zitiert umfassend die bisherige Rechtsprechung des BSG zur Fortführungsfähigkeit einer Arztpraxis.

Eine generelle Festlegung, nach welcher Zeitspanne eine fortführungsfähige Praxis nicht mehr existiert, hat das BSG bislang nicht getroffen. In einem Fall entschied der BGH bei der Nachbesetzung eines Sitzes in einem MVZ, dass eine Frist von sechs Monaten einzuhalten ist, in den besonderen Fällen des Misslingens rechtzeitiger Nachbesetzung trotz erkennbar ernstlichen Bemühens nochmals um sechs Monate verlängert werden kann. In einem anderen Fall entschied das BSG, dass jedenfalls mehr als sieben Jahre nach dem Ausscheiden eines Arztes aus einer Berufsausübungsgemeinschaft keine Grundlage mehr für eine Fortführung bestehe. In einem weiteren Fall führte das BSG aus, dass jedenfalls vier Jahre nach dem faktischen Ende der vertragsärztlichen Tätigkeit davon ausgegangen werden kann, dass ein Praxissubtrat nicht mehr vorhanden und eine Nachfolgezulassung ausgeschlossen sei. Schließlich ist eine weitere Entscheidung zu nennen, bei der das BSG einen Zeitraum von mehr als zwei Jahren nicht mehr genügen ließ, um einen Bezug zur bisherigen vertragsärztlichen Tätigkeit zu nehmen.

Quelle: Gesundheitsrecht 10/2016, S. 628 bis 634

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