Umfassende Kontrolle an Verbotsnormen des Kartellrechts – die Entscheidung des Kartellsenats des BGH vom 27.09.2022

von Lieb Rechtsanwälte

Ein Beitrag von RAin Natalie Freiin von Beust

Kartellrechtliche Schiedssprüche unterliegen im Hinblick auf zwingende Verbotsnormen des Kartellrechts in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht einer uneingeschränkten Kontrolle durch die ordentlichen Gerichte, so der Beschluss des Kartellsenats des BGH vom 27. September 2022 (KZB 75(12).

Diese Entscheidung führte zur Klärung der Reichweite des Verbots der „révision au fond“. Das Verbot der „révision au fond“ ist ein Rechtsbegriff aus dem internationalen Zivilverfahrensrecht, das sowohl im europäischen Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (EUGVÜ) als auch in der europäischen Verordnung über die gerichtliche Zuständigkeit und Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (EuGVVO) geregelt ist. Dieses Verbot untersagt den ordentlichen nationalen Gerichten bei der Anerkennung und/oder Vollstreckbarerklärung ausländischer Gerichtsentscheidungen oder Schiedssprüchen diese in rechtlicher oder tatsächlicher Hinsicht nachzuprüfen. Ausnahme zu dem Verbot der Nachprüfung sind die sog. Anerkennungshindernisse, die ausnahmsweise eine beschränkte Nachprüfung zulassen.

Auf Ebene der deutschen Oberlandesgerichte war die Reichweite dieses Verbots und damit vor allem die Prüfungstiefe und -breite kartellrechtlicher Schiedsurteile lange Zeit ungeklärt und umstritten – anerkannt ist bisher nur, dass kartellrechtliche Sachverhalte schiedsfähig sind und zwingende kartellrechtliche Verbotsnormen der Europäischen Union und Deutschlands zum ordre public (öffentliche Ordnung) gehören. Mit dem hier zitierten Beschluss hat der BGH nun die volle Überprüfbarkeit in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht statuiert.

Der Sachverhalt war der Folgende:
Die Antragsgegnerin ist Eigentümerin eines Waldes, dem zwei Steinbrüche angehören. Jeweils einen dieser Steinbrüche hat sie an die Antragstellerin und an deren Konkurrentin zum Zweck der Gewinnung von gebrochenen Naturstein verpachtet. Die Antragstellerin kündigte den Pachtvertrag vor Ende der Vertragslaufzeit, da sich der Wettbewerb zwischen der Antragstellerin und ihrer Konkurrentin aus Sicht der Antragsgegnerin nachteilig auf die Höhe der umsatzbasierten Pacht auswirkte. Ziel der Kündigung war es, dass die Antragstellerin ihre Anlagen im Steinbruch an ihre Konkurrentin veräußert und als Wettbewerberin aus dem Markt ausscheidet, um eine höhere Pacht durch Wegfall des Wettbewerbs zu erzielen. Die Antragstellerin ging gegen die Kündigung vor und erwirkte die Verhängung eines Bußgeldes des Bundeskartellamts gegen die Antragsgegnerin. Dennoch leitete die Antragsgegnerin zur Durchsetzung ihrer Kündigung das nach dem Pachtvertrag vorgesehene Schiedsverfahren ein. Laut Schiedsspruch war die Kündigung wirksam. Das Schiedsgericht hielt sich nicht für an die kartellrechtliche Bewertung des Bundeskartellamts - auch nicht für eine zwischenzeitlich zweite ausgesprochene, inhaltsgleiche Kündigung - gebunden. Die Antragstellerin stellte Antrag auf Aufhebung dieses Schiedsurteils vor dem OLG Frankfurt. Wegen Unvereinbarkeit mit dem Wesen der Schiedsgerichtsbarkeit als privatautonome Streitentscheidung, lehnte der erkennende Schiedssenat eine kartellrechtliche Prüfungskompetenz der ordentlichen Gerichte ab. Die Antragstellerin legte gegen diese Entscheidung Rechtsbeschwerde zum BGH ein.

Der BGH begründet seine Entscheidung zum unbeschränkten Prüfungsmaßstab insbesondere damit, dass kartellrechtliche Verbotsnormen vor allem der Wahrung des öffentlichen Interesses an einem funktionierenden Wettbewerb dienen und damit nicht nur dem Interesse der Parteien der Schiedsabrede. Das Bundeskartellamt verfügt daher bei staatlichen Verfahren zur Wahrung dieses Interesses über umfassende Beteiligungsbefugnisse nach § 90 Abs. 1 GWB. Im Übrigen ist es bei sonstigen staatlichen Gerichtsverfahren möglich oder gar vorgeschrieben, Vorlagefragen zu kartellrechtlichen Normen an den EuGH zu richten – dies ist bei Schiedsverfahren nicht möglich. Gegen eine Beschränkung auf eine Evidenzkontrolle kartellrechtlicher Schiedsurteile spricht auch die Komplexität der Anwendung der kartellrechtlichen Verbotsnormen, so der BGH. Eine offensichtliche Verletzung kommt bei der Anwendung dieser Normen nur selten in Betracht. Laut BGH entspricht die umfassende Kontrolle auch insofern dem Willen des Gesetzgebers, als die Streichung des alten § 91 Abs. 1 S. 1 GWB (Pflicht eines Wahlrechts zwischen ordentlichen Gerichten und Schiedsgerichten im Rahmen von Schiedsverträgen mit kartellrechtlichem Bezug) und die damit geschaffene generelle Schiedsfähigkeit kartellrechtlicher Streitigkeiten damit begründet worden war, dass Schiedsgerichte Kartellrecht in gleicher Weise wie ordentliche Gerichte zu beachten haben und eine Kontrolle der Schiedssprüche durch ordentliche Gerichte gewährleistet sei. Der BGH stellt mit dem jetzt gefassten Beschluss ohne Zweifel klar, dass jede fehlerhafte Anwendung der zwingenden Verbote des Kartellrechts zum Verstoß gegen die öffentliche Ordnung i.S.d. § 1059 Abs. 2 Nr. 2b ZPO führen, unabhängig davon, ob die fehlerhafte Anwendung offenkundig oder offensichtlich ist.

Die Rechtsprechungslinie des BGH weicht damit von der in anderen europäischen Mitgliedstaaten ab – der französische Kassationshof beschränkt in seiner Rechtsprechung die Kontrolle auf offensichtliche Verstöße gegen das (europäische) Kartellrecht. Bisher hat der EuGH diese Frage mangels Entscheidungserheblichkeit offen gelassen, während im Jahr 2016 im Rahmen eines Schlussantrags des Generalanwalts Wathelet die Position des BGH vertreten wurde.

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