Sozialversicherungspflicht bei Übernahme von Sprechstunden

von Lieb Rechtsanwälte

Ein Beitrag von RA Dr. Klaus Lieb

Nach dem Urteil des BSG vom 12.12.2023 -B 12 R 10/21 R- ist eine versicherungspflichtige Beschäftigung einer Ärztin, die in einer fremden Praxis in arbeitsteiligem Zusammenwirken mit dem dort angestellten Praxispersonal tätig wird, nicht deshalb ausgeschlossen, weil 65 vom Hundert der aus ihrer Tätigkeit vereinnahmten Patientenhonorare den Praxisinhabern für die Überlassung von Räumen, Betriebsmitteln und Personal zustehen.

In dem konkreten Fall beschäftigte eine Privatpraxis für Augenheilkunde (GmbH) eine Augenärztin in ihren Räumlichkeiten. Sie hielt dieser neben den Räumlichkeiten Personal und Ausstattung vor. Sie verfolgte eine eigene Werbe- und Marketingstrategie. Nach dem zwischen der Praxis und der Augenärztin geschlossenen Servicevertrag sollte durch ein möglichst einheitliches Auftreten der mit der Praxis zusammenarbeitenden Ärzte der Bekanntheitsgrad und der Ruf des Augenzentrums erhalten und gefördert werden. In dem Vertrag verpflichtete sich die Ärztin ihre Tätigkeit in eigenem Namen und auf eigene Rechnung auszuüben. Behandlungsverträge sollten zwischen ihr und den Patienten geschlossen werden. Das Augenzentrum seinerseits verpflichtete sich, die Infrastruktur einer augenärztlichen Praxis zur Verfügung zu stellen. Dafür sollte sie 65 vom Hundert der vereinnahmten Honorare erhalten. Die Einziehung der Honorare übernahm das Augenzentrum treuhänderisch. Die Arbeitszeiten der Ärztin richteten sich nach deren persönlichen und zeitlichen Möglichkeiten. Sie war nicht verpflichtet, Sprechstunden anzubieten oder eine Mindestarbeitszeit einzuhalten. Sie hatte keinen Anspruch auf Mindestumsatz oder einer Mindestzahl von Patienten. Der Vertrag sah eine Haftung der Ärztin für alle aus ihrer Tätigkeit entstehenden Schäden vor, auch soweit diese von angestellten der Praxis verschuldet wurden. Insoweit sollten die angestellten Erfüllungsgehilfen der Ärztin sein. Die Ärztin behandelte neben den ihr durch das Augenzentrum zugewiesenen Patienten auch Patienten aus ihrer anderweitigen Tätigkeit, die sie dem Augenzentrum zugewiesen hatte.

Der Rentenversicherungsträger war der Auffassung, dass die von der Augenärztin verrichtete Tätigkeit im Rahmen eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses ausgeübt worden sei. Anders das Sozialgericht und das Landessozialgericht. Nach letzterem weise der Vertrag überwiegend Vereinbarungen auf, welche für eine Selbstständigkeit sprechen. Der Vertrag begründe kein Zeit, Dauer Ort und Art der Tätigkeitsführung umfassendes Weisungsrecht des Augenzentrums und lasse auch kein persönliches oder wirtschaftliches Abhängigkeitsverhältnis erkennen. Die Ärztin sei nicht in Betriebsabläufe des Augenzentrums eingegliedert gewesen. Sie habe ein relevantes Unternehmerrisiko getragen. Ein solches Risiko trage auch jemand, der zwar fremde Betriebsmittel nutze, hierfür aber Nutzungsentgelte zu zahlen haben.

Das Bundessozialgericht sah das anders. Das Gesamtbild der Tätigkeit werde, so das BSG, durch typische, für abhängige Beschäftigung sprechende Merkmale geprägt. Die Ärztin habe ihre ärztliche Tätigkeit in den Praxisräumen des Augenzentrums unter Eingliederung in deren Arbeitsorganisation in „funktionsgerecht dienender Teilhabe am Arbeitsprozess“ erbracht. Die für eine selbstständige Tätigkeit sprechenden Merkmale würden deutlich dahinter zurücktreten.

Praxishinweis

Von einer Beschäftigung eines freien Mitarbeiters mit Merkmalen einer abhängigen Beschäftigung sollte angesichts der strengen Rechtsprechung des BSG abgesehen werden, soweit nicht eine Versicherungsfreiheit aufgrund geringfügiger Beschäftigung oder unständiger Beschäftigung in Betracht kommt. Zur Klärung der Sozialversicherungspflicht sollte bei der vorgesehenen Beschäftigung eines „Selbstständigen“ in freier Mitarbeit unter Verfügungstellung der Infrastruktur des Betriebs unbedingt vorab ein Statusfeststellungsverfahren durchgeführt werden.

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