„Sexuelle Belästigung in Deutschland mittlerweile doch nicht ganz so schlimm?“

von Lieb Rechtsanwälte

So, oder so ähnlich versteht der Volksmund wohl ein Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 08.04.2015. Besagtes Urteil ist jedoch noch nicht rechtskräftig. Jüngst wurde das Urteil nämlich durch die Beklagte, eine Arbeitgeberin, mit der Berufung angegriffen. Das wiederum bedeutet, dass die Entscheidungsgründe des Urteils, also die Argumentation des Richters, noch nicht als Schablone für andere Urteile herangezogen werden kann. Wie so oft in der Rechtswissenschaft muss man jeden Einzelfall für sich betrachten. Der zugrundeliegende Sachverhalt, also die Geschichte, muss mit den gesetzlichen Normen gewürdigt werden.

In jüngster Vergangenheit kursierte das Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 20.11.2014, 2 AZR 651/13 in den Medien. Als sogenanntes „Busengrapscher-Urteil“ diente es dem öffentlichen Anstoß. Jedermann konnte sich aufgrund unserer facettenreichen Medienlandschaft ein eigenes Urteil bilden. Das Schwarz-Weiß Denken konnte perfekt zelebriert werden. Der Mann, der die Frau sexuell belästigt. Er wird gekündigt, klagt dagegen und bekommt Recht. Sie, das Opfer der sexuellen Belästigung muss tolerieren, dass die Kündigung unwirksam ist und der Mann weiterarbeiten darf.

Wäre der zu Grunde liegende Sachverhalt derart einfach gewesen, hätte das Bundesarbeitsgericht ein fehlerhaftes Urteil gesprochen. Eine sexuelle Belästigung ist ein derart schwerer arbeitsrechtlicher Verhaltenspflichtverstoß, der eine außerordentliche fristlose Kündigung rechtfertigt. Jedoch war im vorliegenden Fall der Sachverhalt durchaus komplexer.

Der Kläger (seit 16 Jahren beschäftigt) griff der Arbeitnehmerin an ihren Busen. Daraufhin sagte die Arbeitnehmerin dem Kläger, er möge mit diesem Verhalten unverzüglich aufhören. Sie akzeptiere ein derartiges Verhalten nicht. Infolgedessen ließ der Kläger unverzüglich von der Arbeitnehmerin ab. Den Vorgang schilderte die Arbeitnehmerin zeitnah dem Arbeitgeber.

Daraufhin kam es zu einer Anhörung (Voraussetzung einer Verdachtskündigung) durch den Arbeitgeber. Der Kläger gab zu, dass er sich 1 Sekunde vergessen habe. Eine derartige sexuelle Belästigung auch nicht mehr vorkommen werde. Das war dem Arbeitgeber jedoch egal. Der Kläger erhielt die außerordentlich fristlose Kündigung. Infolge der Kündigung entschuldigte sich der Kläger bei der sexuell belästigten Arbeitnehmerin und zahlte dieser im Rahmen eines Täter-Opfer-Ausgleichs ein kompensatorisches Schmerzensgeld. Die Arbeitnehmerin nahm die Entschuldigung an.

Die Kündigung war unabhängig von diesem Nachtatverhalten unwirksam. Eine Abmahnung hätte ebenso ausgereicht, das Verhalten zu sanktionieren, so die Richter.

So stellte im Ergebnis das Bundesarbeitsgericht fest:

„Eine sexuelle Belästigung iSv. § 3 Abs. 4 AGG stellt nach § 7 Abs. 3 AGG eine Verletzung vertraglicher Pflichten dar. Sie ist "an sich" als wichtiger Grund iSv. § 626 Abs. 1 BGB geeignet. Ob sie im Einzelfall zur außerordentlichen Kündigung berechtigt, ist abhängig von den Umständen des Einzelfalls, ua. von ihrem Umfang und ihrer Intensität. „

So sagt das Gesetz zu einer außerordentlichen Kündigung:

„Gemäß § 626 Abs. 1 BGB kann das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses selbst bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. Dafür ist zunächst zu prüfen, ob der Sachverhalt ohne seine besonderen Umstände „an sich“, dh. typischerweise als wichtiger Grund geeignet ist.

Alsdann bedarf es der Prüfung, ob dem Kündigenden die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Falls - jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist - zumutbar ist oder nicht.“ Somit bleibt festzuhalten, dass die Kündigung 2-stufig geprüft wird.

Zunächst wird geprüft, ob ein Sachverhalt vorliegt, der eine außerordentlich fristlose Kündigung stützen würde.

In einem zweiten Schritt wird dann geprüft, ob dieser Sachverhalt im konkreten Fall eine sofortige Kündigung rechtfertigen würde. Der Jurist spricht davon, dass der Einzelfall anhand des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gewürdigt werden muss. Man muss sich die Frage stellen, ob eine Abmahnung nicht ebenfalls ausreichen wäre, das vertragswidrige Verhalten zu sanktionieren. Dabei lassen sich die Umstände, anhand derer zu beurteilen ist, ob dem Arbeitgeber die Weiterbeschäftigung zumindest bis zum Ende der Frist für eine ordentliche Kündigung zumutbar war oder nicht, nicht abschließend festlegen.

Zu berücksichtigen sind aber regelmäßig das

  • Gewicht und die
  • Auswirkungen einer Vertragspflichtverletzung, der
  • Grad des Verschuldens des Arbeitnehmers, eine
  • mögliche Wiederholungsgefahr sowie die
  • Dauer des Arbeitsverhältnisses und dessen störungsfreier Verlauf.

„Eine außerordentliche Kündigung kommt nur in Betracht, wenn es keinen angemessenen Weg gibt, das Arbeitsverhältnis fortzusetzen, weil dem Arbeitgeber sämtliche milderen Reaktionsmöglichkeiten unzumutbar sind.“ Im Vergleich zu einer außerordentlichen fristlosen Kündigung kommen als mildere Mittel insbesondere die Abmahnung oder die ordentliche Kündigung in Betracht. Sie sind dann alternative Gestaltungsmittel, wenn schon sie geeignet sind, den mit der außerordentlichen Kündigung verfolgten Zweck - nicht die Sanktion pflichtwidrigen Verhaltens, sondern die Vermeidung des Risikos künftiger Störungen des Arbeitsverhältnisses - zu erreichen.

Beruht die Vertragspflichtverletzung auf steuerbarem Verhalten des Arbeitnehmers, ist grundsätzlich davon auszugehen, dass sein künftiges Verhalten schon durch die Androhung von Folgen für den Bestand des Arbeitsverhältnisses positiv beeinflusst werden kann. Ordentliche und außerordentliche Kündigung wegen einer Vertragspflichtverletzung setzen deshalb regelmäßig eine Abmahnung voraus. Einer solchen bedarf es nach Maßgabe des auch in § 314 Abs. 2 iVm. § 323 Abs. 2 BGB zum Ausdruck kommenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nur dann nicht, wenn bereits ex ante erkennbar ist, dass eine Verhaltensänderung in Zukunft auch nach Abmahnung nicht zu erwarten steht, oder es sich um eine so schwere Pflichtverletzung handelt, dass selbst deren erstmalige Hinnahme dem Arbeitgeber nach objektiven Maßstäben unzumutbar und damit offensichtlich - auch für den Arbeitnehmer erkennbar - ausgeschlossen ist.

Vorliegend musste somit auf der zweiten Stufe das Arbeitsgericht den konkreten Einzelfall würdigen. Die Kläger war insgesamt 16 Jahre beanstandungsfrei bei der Arbeitgeberin beschäftigt. Im Rahmen der Anhörung gab der Kläger auch sofort die sexuelle Belästigung zu. Da lediglich er und die sexuell belästigte Arbeitnehmerin anwesend waren, hätte der Kläger ebenso gut den Vorfall leugnen können. Dies hätte zu einer Beweisschwierigkeit geführt. Weiterhin teilte der Kläger mit, er habe vermeintliche Signale der Arbeitnehmerin falsch interpretiert, was zu einem Augenblicksversagen (Busengrabscher) geführt habe. Das Verhalten nach der Tat war zwar nicht mehr ausschlaggebend für die Wirksamkeit der Kündigung, wurde jedoch marginal ebenfalls positiv für den Kläger gewertet. Dies alles waren Gründe, die zu Gunsten des Täters sprachen. Eine Abmahnung war somit erforderlich. Da diese fehlte, war die außerordentlich fristlose Kündigung somit unwirksam.

Ähnlich dürfte es sich in dem Fall vor dem Arbeitsgericht Berlin zugetragen haben. Der Sachverhalt war jedoch wiederum ein anderer. Diesmal teilten die sexuell belästigten Opfer dem Arbeitgeber wohl erst ein halbes Jahr nach den Vorkommnissen die Vorfälle mit. Hintergründig wurden die sexuellen Belästigungen von den vermeintlichen Opfern wohl nicht als derart gravierend empfunden, um dies sofort dem Arbeitgeber mitzuteilen. Weiterhin war der Kläger wohl offensichtlich erst seit zwei Jahren im Betrieb des Arbeitgebers beschäftigt. Infolgedessen wagen wir anzunehmen, dass der Kündigungsgrund an sich (so er denn bewiesen werden kann) gegeben sein dürfte. Im Rahmen der zweiten Stufe dürfte aufgrund der nicht erfolgten Zeugeneinvernahme und aufgrund der in der Presse kursierenden Umstände des Einzelfalles wohl mit einer für den Kläger negativen Entscheidung zu rechnen sein. Es bleibt spannend, was das Landesarbeitsgericht und gegebenenfalls das Bundesarbeitsgericht zu diesem konkreten Einzelfall sein wird.

Im Ergebnis bleibt somit festzuhalten, dass eine sexuelle Belästigung, egal ob durch den Mann, oder durch die Frau durchgeführt, grundsätzlich ein Kündigungsgrund ist, der das Arbeitsverhältnis sofort beenden kann. Weiterhin muss jedoch auch gewürdigt werden, was davor passiert ist, wie lange der Mitarbeiter bei dem Arbeitgeber beschäftigt ist, ob er sich bereits in der Vergangenheit derart daneben benommen hat und insbesondere, ob ein Unrechtsbewusstsein vorhanden ist.  

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