Begrenzung der Arbeitnehmerrechte – Pflicht zur Anzeige einer Massenentlassung dient nicht dem individuellen Schutz der Beschäftigten
von Lieb Rechtsanwälte
Ein Beitrag von RAin Natalie Freiin von Beust
Entlassungen mehrerer Mitarbeitenden müssen der Arbeitsagentur angezeigt werden, dies ist in § 17 Abs. 3 S. 1 des deutschen Kündigungsschutzgesetzes (KSchG) geregelt. Mit Urteil vom 13.07.2023 (Az. C-134/22 G GMBH) hat der Europäische Gerichtshof allerdings entschieden, dass Fehler innerhalb dieser Übermittlungspflicht nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung führen.
Grundsätzlich unterliegen Entlassungsverfahren größeren Umfangs hohen formellen Hürden. Bei Nichteinhaltung dieser Formalitäten droht oft die Nichtigkeit der Kündigung. Im Falle anzeigepflichtiger Massenentlassungen muss der Arbeitgeber nicht nur eine Anzeige bei der zuständigen Agentur für Arbeit im Rahmen des Anzeigeverfahrens erstatten, sondern muss zuvor den Betriebsrat innerhalb eines Konsultationsverfahrens gemäß § 17 Abs. 2 KSchG konsultieren. Innerhalb dieser Konsultation soll eine etwaige Vermeidung von Entlassungen und Minderung der Folgen solcher Entlassungen beraten und mögliche Lösungsansätze besprochen werden. Zur Einleitung des Konsultationsverfahrens unterrichtet der Arbeitgeber den Betriebsrat schriftlich über entscheidungsrelevante Aspekte, d.h. bspw. über die Gründe der geplanten Entlassung, den Zeitraum der Entlassung oder die Anzahl der betroffenen Arbeitnehmer:innen (vgl. § 17 Abs. 2 S. 1 Nr. 1-6 KSchG). In der Regel ist dieses Konsultationsverfahren Teil der Interessenausgleichs- und Sozialplanverhandlungen. Zeitgleich ist der Agentur für Arbeit schon vor der eigentlichen Entlassungsanzeige eine Abschrift dieser Entlassungsmitteilung an den Betriebsrat zuzuleiten (sog. Übermittlungspflicht, geregelt sowohl in der europäischen Massenentlassungsrichtlinie als auch in § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG). Hintergrund dieser Regelung ist es, die Agentur für Arbeit frühzeitig zu informieren und sie auf die geplanten Entlassungen vorzeitig vorzubereiten.
In dem hiesigen Verfahren wurde einem Arbeitnehmer, der seit vielen Jahren bei einer GmBH angestellt war, am 28.10.2020 mitgeteilt, dass sein Arbeitsvertrag gekündigt werde. Am 01.10.2019 war das Insolvenzverfahren über das Vermögen der GmbH eröffnet worden, weshalb am 17.01.2020 beschlossen worden war, die Geschäftstätigkeit der GmbH bis spätestens 30.04.2020 vollständig einzustellen und großflächig Arbeitnehmer:Innen zu entlassen. Zeitgleich wurde am 17.01.2020 das Konsultationsverfahren des Betriebsrats eingeleitet – der zuständigen Agentur für Arbeit wurde jedoch keine Abschrift der schriftlichen Mitteilung an den Betriebsrat zugeleitet. Am 22.01.2020 erklärte der Betriebsrat, dass die Entlassungen nicht vermieden werden können, weshalb der Agentur für Arbeit am 23.01.2020 der Entwurf der Massenentlassung zugesandt wurde. Der Arbeitnehmer berief sich daher im Rahmen des gerichtlichen Verfahrens darauf, dass mangels Übersendung der Abschrift der Mitteilung an den Betriebsrat vom 17.01.2020 an die zuständige Agentur für Arbeit, die Wirksamkeitsvoraussetzungen einer Kündigung nicht eingehalten wurden.
Nach Rechtsprechung des BAG können Verstöße gegen die den Arbeitgeber innerhalb von Massenentlassungen treffenden Pflichten zu einer Nichtigkeit der Kündigung gemäß § 134 BGB führen. Das gilt jedoch nur dann, wenn die jeweilige gesetzliche Regelung zumindest auch die Interessen der Arbeitnehmer:Innen schützt und damit individualschützende Wirkung hat. Diese individualschützende Wirkung lehnt der EuGH bei der Übermittlungspflicht gemäß § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG ab und geht davon aus, dass die Informationsübermittlung nur der zuständigen Behörde ermöglichen soll, sich unter anderem über die Gründe der geplanten Entlassungen, Zahl und Kategorien der entlassenden Beschäftigten einen Überblick zu verschaffen. Die Übermittlungspflicht selbst setzte keine vom Arbeitgeber einzuhaltende Frist in Gang und schafft auch keine Verpflichtung für die zuständige Behörde. Bei der Übermittlung handelt es sich im Gegensatz zur generellen Verpflichtung zur Anzeige einer Massenentlassung nur um eine Informationsvermittlung zu Vorbereitungszwecken. Die zuständige Behörde übernimmt im Verfahren der Konsultation eben gerade keine aktive Rolle und ist nur Adressatin der Abschrift zum Konsultationsverfahren, im Gegensatz zu der späteren aktiven Rolle der zuständigen Behörde im Rahmen des Anzeige- und Entlassungsverfahrens.
Es bleibt abzuwarten, ob der EuGH auch bei anderen Formalitätsfehlern im Konsultations- oder Anzeigeverfahren die strenge Folge der Nichtigkeit einer Kündigung hinterfragen wird. Jedenfalls war dies den Schlussanträgen des Generalanwalts des hiesigen Verfahrens zu entnehmen. Folglich hatte auch das BAG im Mai 2023 mehrfach Verfahren betreffend §§ 17 ff. KSchG ausgesetzt. Nachdem der EuGH bisher keinerlei Bezug zu diesen Formalia und Fehlerfolgen genommen hat, werden für eine Klärung weitere Vorlageverfahren deutscher Gerichte erforderlich sein. Zu erwarten ist vor allem eine Entscheidung zu dem Verständnis des Begriffs „gleichzeitig“ iSd. § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG, der voraussetzt dass der Arbeitgeber die Übermittlungspflicht gegenüber der Agentur für Arbeit gleichzeitig und damit alsbald nach Unterrichtung des Betriebsrates erfüllen muss.