Bundesverfassungsgericht: Im Bereich der privatärztlichen und Selbstzahlerleistungen dürfen Ärzte auch außerhalb ihres Fachgebietes tätig werden.

von Lieb Rechtsanwälte

Sachverhalt:

Der Beschwerdeführer ist approbierter Arzt und Zahnarzt und Mitglied der Ärztekammer H. Seit Januar 2002 führt er die Facharztbezeichnung „Facharzt für Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie“. Er betreibt eine Facharztpraxis, in der er nach eigenen Angaben pro Jahr ca. 3.600 Operationen im Mund-, Kiefer- und Gesichtsbereich durchführt. Daneben ist er Geschäftsführer einer Klinik für „Schönheitsoperationen“, die in der Rechtsform einer GmbH betrieben wird und deren alleinige Gesellschafterin seine Schwester ist. Auch dort ist er ärztlich tätig und operiert pro Jahr nach eigenen Angaben etwa 400 bis 500 Mal. Neben Operationen im Mund-, Kiefer- und Gesichtsbereich, die nach seiner Einschätzung 90 % seiner Tätigkeit in der Klinik ausmachen, führt er seit 2001 auch Operationen zur Veränderung der Brust sowie Bauch- und Oberarmstraffungen durch.

Das Berufsgericht erteilte dem Beschwerdeführer wegen eines Berufsvergehens einen Verweis und erlegte ihm eine Geldbuße auf. Mit den Eingriffen im Brust-, Bauch- und Oberarmbereich sei er außerhalb des Gebiets seiner Facharztbezeichnung systematisch tätig geworden. Die hiergegen gerichtete Berufung hatte keinen Erfolg. Der Beschwerdeführer wandte sich zuletzt an das Bundesverfassungsgericht und rügte eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 und Art. 12 Abs. 1 GG.

Entscheidung:

Das Bundesverfassungsgericht gab der Verfassungsbeschwerde statt. Der Patientenschutz, so das Bundesverfassungsgericht, erfordert es nicht, einem bestimmten Fachgebiet zugeordnete Behandlungen nur durch Ärzte dieses Fachgebiets durchführen zu lassen. Die Qualität ärztlicher Tätigkeit wird durch die Approbation nach den Vorschriften der Bundesärzteordnung sichergestellt. Zwar hat ein Arzt in jedem Einzelfall zu prüfen, ob er aufgrund seiner Fähigkeiten und der sonstigen Umstände – wie etwa der Praxisausstattung – in der Lage ist, seinen Patienten nach den Regeln der ärztlichen Kunst zu behandeln. Vorbehaltlich dieser Prüfung ist er aber, unabhängig vom Vorhandensein von Spezialisierungen, berechtigt, Patienten auf allen Gebieten, die von seiner Approbation umfasst sind, zu behandeln. Eine generelle Verpflichtung, Patienten mit Erkrankungen auf einem bestimmten Gebiet an einen für dieses Gebiet zuständigen Facharzt zu verweisen, ist hiermit nicht vereinbar. Sie würde bei Ärzten ohne Facharzttitel im Übrigen dazu führen, dass diese praktisch gar nicht mehr ärztlich tätig sein könnten, weil die fachärztlichen Bereiche das Spektrum ärztlicher Tätigkeit inzwischen weitgehend abdecken. Genauso wenig ist der Gesichtspunkt der Wirtschaftlichkeit der Versorgung, der im vertragsärztlichen Bereich zusätzliche Beschränkungen erlaubt, geeignet, Eingriffe außerhalb dieses Bereichs zu rechtfertigen. Schließlich ist der Schutz vor Konkurrenz kein Zweck, der einen Grundrechtseingriff in diesem Zusammenhang erlaubt.

Allerdings müssten, so das Bundesverfassungsgericht, sich die fachgebietsfremden Leistungen im geringfügigen Bereich (Anteil unter 5 %) bewegen.

(Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 01.02.2011, 1 BvR 2383/10)

Hinweise:

1.

Fachgebietsfremde Leistungen sind berufsrechtlich zulässig, wenn sie vom Arzt nur im geringfügigen Umfang erbracht werden. Als Bezugsgrößen hat das Bundesverfassungsgericht im entschiedenen Fall die Gesamtzahl der vom Arzt durchgeführten Operationen angesetzt. Ein Maßstab kann ebenso die Gesamtzahl der behandelten Patienten oder die Gesamtzahl der Behandlungsfälle sein.

2.

Erbringt ein Arzt fachfremde Leistungen, muss er diese selbstverständlich beherrschen. Er kann sich nicht dadurch entlasten, dass er den Facharztstandard des fremden Gebietes nicht kannte.

3.

Der Arzt muss sicherstellten, dass seine Haftpflichtversicherung Versicherungsschutz für fachfremde Leistungen erbringt.

4.

Die fachfremden Leistungen dürfen nur im geringfügigem Umfang erbracht werden (5 %-Grenze).

5.

Vorsicht ist bei der Werbung angezeigt. Der Arzt darf nicht fachfremde Leistungen systematisch bewerben und als Tätigkeitsschwerpunkt herausstellen.

6.

Auf die vertragsärztliche Behandlung wirkt sich der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts kaum aus, weil hier die nach Fachgruppe und Zulassung abrechnungsfähigen Leistungen im EBM definiert sind.

Zurück