Bewertung eines Behandlungsfehlers als grob
von Lieb Rechtsanwälte
Gesicherte medizinische Erkenntnisse, deren Missachtung einen Behandlungsfehler als grob erscheinen lassen können, sind nicht nur die Erkenntnisse, die Eingang in Leitlinien, Richtlinien oder anderweitige ausdrückliche Handlungsanweisungen gefunden haben. Hierzu zählen vielmehr auch die elementaren medizinischen Grundregeln, die im jeweiligen Fachgebiet vorausgesetzt werden. BGH, Urteil vom 20.09.2011 – VI ZR 55/09 (GesR 718/2011)
In dem Streitfall hatte sich eine Patientin die Mandeln stationär entfernen lassen. Es traten Nachblutungen auf, welche eine Nachoperation zur Blutstillung erforderlich machten. Hierbei kam es bei der Patientin zu einer äußerst dramatischen und schwierigen Komplikation. Die Intubationen schlugen zunächst fehl. Als im Zuge der Maßnahmen kurzzeitig der Krikoiddruck aufgegeben werden musste, wurde Blutkoagel aus dem Magen der Patienten hochgespült. Trotz der sodann durchgeführten Koniotomie konnte zunächst keine zufriedenstellende Sauerstoffsättigung erreicht werden.
Der gerichtlich bestellte Sachverständige sah keinen groben, schlechterdings unverständlichen Fehler. Die richtige Vorgehensweise in dieser Situation werde in keinem Lehrbuch und in keiner Handlungsanweisung näher beschrieben. Da es keine klaren und feststehenden Vorgaben dazu gebe, wie in einer Situation wie der vorliegend aufgetretenen vorzugehen sei, fehle es an einem eindeutigen Verstoß gegen bewährte ärztliche Behandlungsregeln oder gesicherte medizinische Erkenntnisse. Das Oberlandesgericht folgte der Meinung des Sachverständigen und verneinte einen groben Behandlungsfehler.
Der BGH sah dies anders. Nach seiner Auffassung zählen zu den gesicherten medizinischen Erkenntnissen die elementaren medizinischen Grundregeln, die im jeweiligen Fachgebiet vorausgesetzt werden. Hierzu gehört auch der Grundsatz, dass ein Anästhesist bei jeder seiner Handlungen sicherzustellen hat, dass das Sauerstoffangebot den Sauerstoffbedarf des Patienten deckt, da die oberste Richtschnur bei Durchführung einer Anästhesie stets die optimale Sauerstoffversorgung des Patienten ist. Der BGH bestätigte auch Rüge, dass das Berufungsgericht den verspäteten Austausch des Tubus und die Verzögerung der Bronchoskopie nicht als groben, sondern als einfachen Behandlungsfehler eingestuft habe. Der Sachverständige hatte die Verzögerung als völlig unverständlich bezeichnet, jedoch einen groben Behandlungsfehler verneint, weil er weder Leitlinien noch wissenschaftliche Veröffentlichungen kenne, die Handlungsrichtlinien für einen solchen Sachverhalt enthielten und man den erstmals mit einer solchen Situation konfrontierten Ärzten deshalb subjektiv nicht den Vorwurf machen könne, dass ihre Handlungsweise vollkommen unverständlich sei. Auf die subjektive Vorwerfbarkeit kommt es aber nicht an.
Hinweis:
Siehe hierzu auch das im med-ius besprochene Urteil des BGH vom 25.10.2011 – VI ZR 139/10 (GesR81/2012), Artikel vom 02.04.2012