Beweislastumkehr bei Vernachlässigung von Hygienevorschriften in der Praxis
von Lieb Rechtsanwälte
Eine absolute Keimfreiheit in Praxen und anderen ärztlich genutzten Räumen gibt es nicht und wird es auch in Zukunft nicht geben, weshalb ein Arzt zumindest dann nicht auf Schadensersatz und Schmerzensgeld haftet, wenn sich ein Patient trotz einwandfreier Hygiene in den Praxisräumen mit Bakterien ansteckt.
Einen anderen Fall hatte der BGH (Revision; Az.: VI ZR 158/06) zu entscheiden:
In diesem sprach das Oberlandesgericht (OLG) Koblenz einer Patientin wegen gravierender Hygienemängel ein Schmerzensgeld in Höhe von 25.000,00 € zu, weil es das Gericht als erwiesen ansah, dass sich die Patientin in der Praxis des Beklagten mit Staphylokokken angesteckt hatte. Der BGH bestätigte die Rechtsauffassung des OLG.
Sachverhalt:
Die Klägerin, eine Unternehmerin, erhielt in der Praxis des Beklagten im Jahre 1999 wegen Halsstarre mehrere Injektionen und erlitt dabei einen Spritzenabszess, der mit starken Kopfschmerzen, Schüttelfrost und Schweißausbrüchen einherging.
In der Folgezeit sammelte sich immer wieder Eiter in dem Abszess, so dass die Klägerin daran über zwei Jahre hinweg mehrmals stationär behandelt werden musste. Heute ist die Klägerin arbeitsunfähig und leidet wegen der anhaltenden Schmerzen, die sich vom Nacken bis in den Kopf erstrecken, an Schlafstörungen und Depressionen. Herausgestellt hatte sich, dass eine Arzthelferin des Beklagten, die bei den Injektionen durchwegs assistierte, Trägerin der Bakterien war. Des Weiteren wurden vom Gesundheitsamt folgende gravierende Hygienemängel in der Arztpraxis festgestellt:
- Fehlen eines klaren Hygieneplans; mündliche Anweisungen waren schon länger nicht mehr erteilt worden
- Hygienesensible Arbeitsflächen wurden nur ein Mal pro Woche desinfiziert, obwohl dies täglich hätte geschehen müssen
- Zur Hautdesinfektion wurde ein Mittel mit langer Einwirkzeit verwendet
- Desinfektionsmittel wurden nicht in den Originalbehältern aufbewahrt, sondern waren umgefüllt worden. Zwei von vier geprüften Alkoholen waren verkeimt
- Die Durchstechflaschen mit Injektionssubstanzen wurden mehrere Tage hintereinander benutzt
- vor dem Setzen einer Spritze war es nicht üblich die Hände zu waschen.
Zwar entschied das Gericht - wie bereits eingangs erwähnt -, dass eine absolute Keimfreiheit nirgends möglich sei. Würden jedoch die Hygienevorschriften in einem derart eklatanten Maß vernachlässigt, greife zugunsten der Patientin (Klägerin) eine Beweislastumkehr ein: Anders als sonst üblich, müsse in einem solchen gravierenden Fall der Arzt beweisen, dass er die nötige Sorgfalt im Hinblick auf die einzuhaltende Hygiene in der Praxis hatte walten lassen und dass sich die Klägerin nicht infolge der Behandlung in seiner Praxis angesteckt hatte, was der Arzt im vorliegenden Fall nicht konnte.
Dass die Infektion der Angestellten für den Arzt nicht erkennbar war, war nach Ansicht der Richter für dessen Entlastung nicht geeignet. Es sei allein die Aufgabe des Arztes für eine ausreichende Hygiene in der Praxis zu sorgen. Werde diese Pflicht - wie hier - fahrlässig vernachlässigt und stehe der Keimüberträger und damit die Quelle der Übertragung fest, so greifen die Grundsätze der Beweislastumkehr ein.