Abschluss individueller Richtgrößenvereinbarungen

von Lieb Rechtsanwälte

Abschluss individueller Richtgrößenvereinbarungen

1.

Die Prüfgremien sind nicht verpflichtet, dem zu prüfenden Vertragsarzt von sich aus den Abschluss einer individuellen Richtgrößenvereinbarung anzubieten oder in sonstiger Weise hierauf hinzuwirken.

2.

Auch den Beschwerdeausschuss trifft die Verpflichtung, einem Antrag bzw. einer Anregung des geprüften Arztes auf Abschluss einer individuellen Richtgrößenvereinbarung nachzugehen. Die Verweigerung von Verhandlungen führt zur Rechtswidrigkeit seiner Entscheidung.

BSG, Urteil vom 28.08.2013 – B 6 KA 46/12 R

Entscheidung:

Ein an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmender Arzt überschritt das seinerzeit maßgebliche Richtgrößenvolumen für die Verordnung von Arznei- und Verbandmitteln um rund 100 %. Der damalige Prüfungsausschuss sprach im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung einen Regress aus. Nach Anerkennung von Praxisbesonderheiten verblieb eine Restüberschreitung von rund 40 %. Der Widerspruch des Arztes, mit dem er weitere Praxisbesonderheiten, hilfsweise den Abschluss einer individuellen Richtgrößenvereinbarung geltend machte, blieb erfolglos. Der verklagte Beschwerdeausschuss wandte ein, eine individuelle Richtgröße könne nur vor Festsetzung des Regresses vereinbart werden. Während des Verfahrens vor dem Prüfungsausschuss sei jedoch kein entsprechender Antrag gestellt worden. Nach Erlass des Prüfbescheids sei eine Vereinbarung ausgeschlossen. Auf die Klage des Arztes hob das Sozialgericht den Bescheid wegen Verstoßes gegen § 106 Abs. 5d SGB V auf. Auf die Berufung des Beschwerdeausschusses hob das Landessozialgericht das Urteil des Sozialgerichts auf und wies die Klage ab. Die hierauf eingelegte Revision des Arztes hatte Erfolg. Das Bundessozialgericht hob die Entscheidung des Landessozialgerichts auf.

Nach der Entscheidung des Bundessozialgerichts musste der beklagte Beschwerdeausschuss über den Widerspruch des Arztes gegen die Entscheidung des Prüfausschusses entscheiden und mit dem Arzt insbesondere in Verhandlungen über den Abschluss einer individuellen Richtgrößenvereinbarung treten. Zwar seien die Prüfgremien nicht verpflichtet, auf den Abschluss einer individuellen Richtgrößenvereinbarung hinzuwirken, beantrage jedoch der geprüfte Arzt den Abschluss einer solchen Vereinbarung oder rege er diese an, seien die Prüfgremien gehalten, mit ihm über den Abschluss einer solchen Vereinbarung zu verhandeln. Diese Verpflichtung obliege nicht allein dem Prüfungsausschuss bzw. der Prüfungsstelle, sondern auch dem Beschwerdeausschuss. Die Festsetzung eines Regressbetrages durch den Prüfungsausschuss bzw. die Prüfungsstelle entfalte insoweit keine Sperrwirkung.

Hinweis:

Der durch § 106 Abs. 5a Satz 4 SGB V statuierte Grundsatz „Vertrag vor Verwaltungsakt“ gilt im Rahmen des § 106 Abs. 5d SGB V nicht. Droht dem Arzt wegen Überschreitung des Budgets von Arznei- und Verbandmitteln einschließlich Sprechstundenbedarf ein Regress, liegt der Handlungsbedarf bei dem Arzt, um Praxisbesonderheiten im Rahmen einer Vereinbarung anerkannt zu erhalten. Verhandlungen über individuelle Richtgrößen nach dem Grundsatz „Beratung vor Regress“ bieten eine weitere Chance, aus einem Regress herauszukommen. Das ist insbesondere für Ärzte interessant, wenn diese nach erstmaliger Überschreitung bereits eine Beratung erhalten haben und trotzdem bei regressrelevanten Verordnungsgrößen bleiben.

Quelle: ZMGR 412/2013

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