Selbstständigkeit versus abhängige Beschäftigung

von Lieb Rechtsanwälte

Ein Beitrag von RA Dr. Klaus Lieb, FA für Medizinrecht, FA für Handels- und Gesellschaftsrecht

Die ärztliche Tätigkeit – grundsätzlich ein freier Beruf – kann sowohl im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses als abhängige Beschäftigung als auch in Form selbstständiger Tätigkeit ausgeübt werden. Die rechtliche Einordnung hat weitreichende Konsequenzen für die Frage eines etwaigen sozialversicherungsrechtlichen Status. Dieser ist der Disposition der Parteien entzogen. Mit anderen Worten, es liegt nicht an den Parteien weder durch die Bezeichnung des Vertrages als „Freier-Mitarbeiter-Vertrag“ noch durch Vertragsklauseln das Rechtsverhältnis zu definieren. Ausschlaggebend ist einzig und allein, wie das Vertragsverhältnis tatsächlich praktiziert wird. Es muss immer der konkrete Sachverhalt im Einzelfall geprüft werden. Für die selbstständige Tätigkeit sprechen insbesondere:

  • Keine Weisungsgebundenheit,
  • keine Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Auftraggebers,
  • möglichst wenige Vorgaben hinsichtlich der Arbeitszeit etc.

Aktuell hat sich das Bundessozialgericht mit der Vertretungstätigkeit in einer Vertragsarztpraxis sowie mit der notärztlichen Nebentätigkeit befasst und in beiden ihm vorgelegten Fällen eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung bejaht, wie nachfolgenden, im Newsletter der Arbeitsgemeinschaft Medizinrecht 10/2021 veröffentlichten Entscheidungen zu entnehmen ist:

Vertretungstätigkeit in Vertragsarztpraxis ist sozialversicherungspflichtige Beschäftigung

Eine in einem Krankenhaus angestellte Oberärztin übernahm nach Absprache im Einzelfall die Vertretung des Arztes einer gastroenterologischen BAG wegen Urlaubs oder Krankheit. Gegen eine Vergütung je Einsatzstunde führte sie unter anderem endoskopische Untersuchungen durch, schrieb Befundberichte und gab Therapieempfehlungen. Es entbrannte ein Streit um die Einordnung der Vertretungstätigkeit als sozialversicherungspflichtige Beschäftigung.

Nach Ansicht der BSG handelte es sich bei der Vertretung um eine abhängige Beschäftigung. Die Ärztin war insbesondere hinsichtlich der Zuweisung bestimmter behandelter Personen weisungsgebunden. Aufgrund des arbeitsteiligen Zusammenwirkens mit dem Praxispersonal und der kostenfreien Nutzung der Einrichtungen und Mittel der BAG war sie in deren Arbeitsabläufe eingegliedert. Das ausschließliche Tätigwerden in einer Vertretungssituation änderte daran nichts. Der Eingliederung in einen fremden „Arztbetrieb“ könne zwar entgegenstehen, dass ein Arztvertreter für die Dauer der Tätigkeit die Stelle des Praxisinhabers einnimmt und zeitweilig selbst dessen Arbeitgeberfunktionen erfüllt. Das sei hier aber nicht der Fall gewesen, so der Senat. Die Vertreterin habe lediglich ärztliche Leistungen übernommen, aber keine Vertretung in der Rechtsstellung der Mitglieder der BAG geleistet. Ob mit der gewählten Ausgestaltung der ärztlichen Vertretung berufszulassungsrechtlichen Anforderungen Genüge getan wird, sei für die sozialversicherungsrechtliche Einordnung einer Tätigkeit als Beschäftigung unerheblich.

Bundessozialgericht, Urteil vom 19.10.2021 – B 12 R 1/21 R
- bisher offenbar nicht veröffentlicht -

Notärztliche Nebentätigkeit ist sozialversicherungspflichtige Beschäftigung

Ein bei der Malteser Hilfsdienst gGmbH vollzeitbeschäftigter Arzt war als Notarzt für einen Landkreis im Rettungsdienst tätig. Die insoweit abgeschlossene „Honorarvereinbarung“ sah unter anderem vor, dass er „freiberuflich tätig“, „nicht in die Arbeitsorganisation des Auftraggebers eingebunden“ und „in seiner Verantwortung in Diagnostik und Therapie unabhängig“ sein sollte. Für die Erbringung der von der Leitstelle angezeigten Rettungseinsätze erhielt er eine Vergütung von 35 € brutto je geleisteter Stunde. Die Dienste wurden auf einem Online-Portal ausgeschrieben und konnten frei ausgewählt werden. Während einer übernommenen Schicht hielt sich der Arzt in der von der Stadt Fulda unterhaltenen Rettungswache auf. Nach Alarmierung durch die den gesamten Einsatz lenkende zentrale Leitstelle wurde er von einem Fahrer in einem städtischen Notarztfahrzeug an den Einsatzort gebracht. Die Einsätze hatte der Arzt nach einheitlichen Vorgaben zu dokumentieren. Es entbrannte ein Streit um die Einordnung der Notarzttätigkeit als sozialversicherungspflichtige Beschäftigung.

Nach Ansicht der BSG handelte es sich bei der notärztlichen Tätigkeit um eine abhängige Beschäftigung. Für die Beurteilung seien dieselben Maßstäbe anzuwenden wie zur Beurteilung der vergleichbaren Tätigkeit von Honorarärzten im Krankenhaus. Danach sei eine Gesamtwürdigung maßgeblich, in der insbesondere die Eingliederung in die Arbeitsorganisation in den Blick zu nehmen sei. Bei Vertragsgestaltungen, in denen die Übernahme einzelner Dienste jeweils frei vereinbart wird, sei auf die jeweiligen Einzelaufträge abzustellen.

Ein Weisungsrecht habe in Bezug auf den Notarzt zumindest insoweit bestanden, als die Leitstelle den Einsatz lenkte und ihm den Einsatzort zuwies, an den er sich so schnell wie möglich zu begeben hatte. In die Arbeitsorganisation des Landkreises sei er eingegliedert gewesen, weil er zur Erbringung der Notarzttätigkeit Arbeitsmittel nutzte und mit Personal arbeitsteilig zusammenwirkte, das zu dessen Rettungsdienstbetrieb gehörte.

Bundessozialgericht, Urteil vom 19.10.2021 – B 12 R 1/21 R
- bisher offenbar nicht veröffentlicht -

 

Praxishinweis:

Die Thematik Selbstständigkeit vs. abhängige Beschäftigung („Scheinselbstständigkeit“) stellt sich auch bei allen anderen freien Berufen. Es muss immer der konkrete Sachverhalt im Einzelfall geprüft werden. Weil jede Fallkonstellation anders ist, wird es auch die Grundsatzentscheidung, dass etwa der Vertreter in einer Arztpraxis seine Dienste stets unselbstständig erbringt, nicht geben kann. Die Deutsche Rentenversicherung Bund (DRV) überprüft verstärkt „Freiberufler“, um der Flucht aus dem sozialversicherungsrechtlichen Beschäftigungsverhältnis vorzubeugen vor zu beugen. Vor diesem Hintergrund sollten bei der Vertragsgestaltung die konkreten Abgrenzungskriterien zur Vermeidung der erheblichen Folgen einer fehlerhaften sozialversicherungsrechtlichen Einstufung strikt beachtet werden. Wir unterstützen Sie bei der erforderlichen Statusfeststellung gerne.

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