Hypothetische Einwilligung in Arzthaftungsfällen – Auseinanderfallen von Theorie und Praxis
von Lieb Rechtsanwälte
Ein Beitrag von RA Johannes Gründner
BGH, Urteil vom 07.12.2021 – VI ZR 277/19
In Arzthaftungsprozessen stützt der klagende Patient seine Schadensersatzansprüche häufig darauf, dass die gemäß §630e Abs. 1 BGB von dem Arzt geschuldete Risikoaufklärung nicht ordnungsgemäß erfolgt sei. Der Arzt haftet dabei wegen der Verletzung der Aufklärungspflicht.
Genauso üblich ist es, dass sich der – was die ordnungsgemäße Aufklärung betrifft – beweisbelastete Arzt auf den Einwand der hypothetischen Einwilligung beruft. Dieser besagt, dass der Patient auch im Falle einer ordnungsgemäßen Aufklärung dem Eingriff zugestimmt hätte. Greift der Einwand durch, haftet der Arzt wegen der Verletzung der Aufklärungspflicht nicht.
Für den Einwand der hypothetischen Einwilligung ist der Arzt ebenfalls beweisbelastet. Er hat zunächst konkret vorzutragen, dass der Patient bei ordnungsgemäßer Aufklärung gleichermaßen den Eingriff hätte vornehmen lassen. Bevor dann das Gericht darüber Beweis zu erheben hat, muss der Patient dartun, dass er – wäre er ordnungsgemäß aufgeklärt worden – vor einem echten Entscheidungskonflikt gestanden hätte.
Mit seinem Urteil vom 07.12.2021 hält der BGH an seiner bisherigen Rechtsprechung fest, dass hinsichtlich der Frage des echten Entscheidungskonflikts an die Substantiierung des Patienten keine zu hohen Anforderungen gestellt werden dürfen. Der VI. Zivilsenat betont dabei, dass von dem Patienten nicht verlangt werden kann, plausibel darzulegen, dass er sich im Falle einer ordnungsgemäßen Aufklärung auch tatsächlich gegen den durchgeführten Eingriff entschieden hätte (BGH, Urteil vom 07.12.2021 – VI ZR 277/19, juris Rn. 10).
Obwohl dieser Rechtssatz nichts Neues ist, war es dem Senat offensichtlich daran gelegen, erneut zu betonen, dass es nicht darauf ankommt, wie sich der Patient im Falle einer ordnungsgemäßen Aufklärung tatsächlich entschieden hätte. Es hat zu genügen, dass er überzeugend darlegt, er hätte nicht gewusst, wie er sich entschieden hätte.
Instanzgerichte tendieren häufig dazu, darauf abzustellen, wie die Entscheidung des Patienten tatsächlich ausgefallen wäre. Dahingehende Fragen im Rahmen der Beweisaufnahme sind nicht sachdienlich. Die entscheidende Frage des Entscheidungskonflikts wird dabei übergangen.
Führt der Patient in der mündlichen Verhandlung aus, er hätte sich im Falle der ordnungsgemäßen Aufklärung gegen den Eingriff entschieden, lässt dies keine Schlüsse auf das Vorliegen eines Entscheidungskonflikts zu. Die eigentliche Frage wird damit nicht beantwortet. Ist das Gericht von den Ausführungen des Patienten, er hätte den Eingriff nicht vorgenommen, nicht überzeugt, darf es nicht sogleich annehmen, dass sich der Patient auch nicht in einem Entscheidungskonflikt befunden hätte oder gar dem Eingriff zugestimmt hätte. Selbst wenn der Patient den Eingriff tatsächlich hätte vornehmen lassen, was ja von dem Arzt zu beweisen wäre, kann sich der Patient in einem Entscheidungskonflikt befunden haben. Nur darauf kommt es an.
Oftmals stellt ein Gericht auch vorschnell auf den Einwand der hypothetischen Einwilligung ab, ohne vorher ausreichend geklärt zu haben, ob eine ordnungsgemäße Aufklärung überhaupt vorliegt. Im Ergebnis wird der Patient in eine ungünstige prozessuale Situation versetzt, obwohl der Arzt sowohl hinsichtlich der Aufklärung als auch hinsichtlich des Einwands der hypothetischen Einwilligung beweisbelastet ist.