Zufallsbefunde, Abgrenzung Befunderhebungsfehler/Diagnoseirrtum
von Lieb Rechtsanwälte
1. Den Arzt verpflichten auch die Ergebnisse solcher Untersuchungen zur Einhaltung der berufsspezifischen Sorgfalt, die medizinisch nicht geboten waren, aber trotzdem ‑ beispielsweise aus besonderer Vorsicht – veranlasst wurden.
2. Der für die Auswertung eines Befundes im konkreten Fall medizinisch verantwortliche Arzt hat all die Auffälligkeiten zur Kenntnis und zum Anlass für die gebotenen Maßnahmen zu nehmen, die er aus berufsfachlicher Sicht seines Fachbereichs unter Berücksichtigung der in seinem Fachbereich vorausgesetzten Kenntnisse und Fähigkeiten sowie der Behandlungssituation feststellen muss. Vor in diesem Sinne für ihn erkennbaren „Zufallsbefunden“ darf er nicht die Augen verschließen.
BGH, Urteil vom 21.12.2010 – VI ZR 284/09
Zum Sachverhalt
Bei einer Patientin wurde für die Durchführung der Narkose eine (nach Auffassung des Gutachters nicht erforderliche) Röntgenaufnahme gefertigt. Der mit der Narkose befasste Anästhesist überprüfte die Röntgenaufnahme nur auf das Vorliegen anästhesierelevanter Auffälligkeiten. Die auf der Röntgenaufnahme der Lunge ohne weiteres erkennbare Verdichtung (Tumor) übersah er. Eine Abklärung durch weitere differentialdiagnostische Maßnahmen unterblieb somit. Der Tumor wurde erst zu einem späteren Zeitpunkt festgestellt. An diesem verstarb die Patientin. Bei einer früheren Behandlung des Karzinoms wäre der Tod möglicherweise erst zu einem späteren Zeitpunkt eingetreten.
Entscheidung:
Der BGH ließ den Einwand des beklagten Krankenhauses, die Röntgenaufnahme sei lediglich auf anästhesierelevante Besonderheiten hin auszuwerten gewesen, nicht gelten. Aufgrund der gegenüber dem Patienten obliegenden Fürsorgepflicht hat der für die Auswertung eines Befundes im konkreten Fall medizinisch verantwortliche Arzt all die Auffälligkeiten zur Kenntnis und zum Anlass für die gebotenen Maßnahmen zu nehmen, die er aus berufsfachlicher Sicht seines Fachbereichs unter Berücksichtigung der in seinem Fachbereich vorausgesetzten Kenntnisse und Fähigkeiten sowie der Behandlungssituation feststellen muss. Vor in diesem Sinne für ihn erkennbaren „Zufallsbefunden“ darf er nicht die Augen verschließen.
Anmerkung:
Der BGH beanstandete des weiteren, dass der angenommene Fehler des Anästhesisten als Befunderhebungsfehler und nicht als Diagnoseirrtum qualifiziert worden sei. Ein Befunderhebungsfehler sei gegeben, wenn die Erhebung medizinisch gebotene Befunde unterlassen wurde. Im Unterschied dazu liege ein Diagnoseirrtum vor, wenn die Arzt erhobene oder sonst vorliegende Befunde falsch interpretiere und deshalb nicht die gebotenen Maßnahmen ergreife. Die Fehlinterpretation des eroberten Befundes der Röntgenaufnahme sei als Diagnosefehler zu werten.
Quelle: ZMGR 78/2011